Chile: Der Sieg der Linken – eine Wende in Lateinamerika?

Von Ali Kohlbacher

Mit 56% der Stimmen hat die Mehrheit des chilenischen Volkes in der Stichwahl dem nur 38-jährigen Linkskandidaten Gabriel Boric das Vertrauen ausgesprochen und ihn zum Präsidenten der Republik Chile gewählt. Eine Sensation, mit der niemand gerechnet hatte. Beim ersten Wahlgang am 21. November 2021 erhielten der stramm rechtsstehende Konservative Jose Antonio Kast und Boric fast gleich viele Stimmen bei einer geringen Wahlbeteiligung von 50%. Der deutschstämmige Kast hatte dabei eine hauchdünne Mehrheit erzielt, die jedoch nicht ausreichte, um das Präsidentenamt anzutreten. Eine Stichwahl sollte Klarheit schaffen. Sie hat Klarheit geschaffen: Gabriel Boric ist nicht nur der jüngste Präsident Chiles, er ist ein linker Präsident. Sein Sieg zeigt den Armen und Ausgebeuteten, der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht Lateinamerikas, dass die Macht des US-Imperiums, dass der lange Arm der Wall Street und des Pentagons nicht grenzenlos sind.

Wer ist Gabriel Boric Font?

Der Sohn einer katalanischen Mutter und eines kroatischen Vaters wurde in Punta Arenas, im äußersten Süden Chiles, geboren. Als Armee-General Augusto Pinochet 1973 mit dem Wohlwollen und der Unterstützung Washingtons die 1970 mit großer Mehrheit gewählte Volksfrontregierung unter Präsident Salvador Allende mit Waffengewalt stürzte, war Gabriel 17 Jahre alt. Er erlebte die blutige, faschistische Militärdiktatur Pinochets, die Ermordung und die Folterung tausender Sozialisten und Kommunisten sowie die Gräuel in den Konzentrationslagern. Tausende flohen in andere Länder, auch nach Österreich, wo sie von der Regierung Kreisky freundschaftlich aufgenommen wurden. 17 Jahre wütete die Gewaltherrschaft., von der sich Chile lange nicht erholen konnte. Nach den Rezepten der „Chicago Boys“, den Propheten des Neoliberalismus, wurden die Staatsbetriebe, v.a. die Kupferminen, privatisiert und der Sozialstaat abgeschafft.  Noch heute gilt in Chile die Verfassung Pinochets. Keine der nachfolgenden wirtschaftsliberalen, konservativen Parlamente waren bereit, sie durch eine demokratische zu ersetzen.  Chile pendelte zwischen schwachen rechten und linken Regierungen hin und her. Erstmals 2019, unter der konservativen Regierung von Piñera, wurde der junge Linke Gabriel Boric bekannt, als er die Studentenproteste anführte, die in die Hauptstadt Santiago de Chile und anderen Städten das Wirtschaftsleben lahm legten. Große Teile der Bevölkerung unterstützten die Proteste, die sich v.a. gegen die extreme soziale Ungleichheit richteten und eine Verfassungsreform sowie soziale Wirtschaftsreformen forderten. Die Linke befreite sich von den internen, fruchtlosen Debatten, wer die Schuld habe, Pinochet nicht verhindert zu haben. Die Zeiten hatten sich geändert und die Jugend, das Proletariat und die fortschrittliche Mittelschicht wollten einen tiefgreifenden Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems. Boric siegte mit dem linken Wahlbündnis „Apruebro Dignidad“ (Ich stimme der Würde zu) und will mit diesem Rückhalt diesen Wandel herbeiführen.

Und wer ist, (wer war) Jose Antonio Kast, der Verlierer der Wahl?

Der 55-jährige Bewunderer Pinochets ist Sohn deutscher Einwanderer. Er repräsentiert das reiche und superreiche Chile, die Konzerne und verteidigt die Militärdiktatur, die Pinochet-Verfassung und den Neoliberalismus. Seine Themen im Wahlkampf waren Steuersenkung, was zum Vorteil der Reichen ist, hartes Vorgehen gegen Kriminalität, Drogenhandel und Einwanderung und gegen jede Art von Verstaatlichung. Er ist Vater von sechs Kindern und streng gläubiger Katholik.

Auszüge aus der Dankesrede des neuen Präsidenten

Bei der großartigen Dankesrede am 19.12.2021vor seinen jubelnden Anhängern stellte Präsident Gabriel Boric fest:

  • Die Zukunft Chiles braucht uns alle auf derselben Seite, auf der Seite des Volkes…
  • Ich weiß, dass die Geschichte nicht bei mir beginnt. Ich fühle mich als Erbe einer langen geschichtlichen Entwicklung derjenigen, die sich von verschiedenen Positionen aus unermüdlich für soziale Gerechtigkeit, die Ausweitung der Demokratie, die Verteidigung der Menschenrechte und den Schutz der Freiheiten eingesetzt haben…
  • Heute können wir in einigen Dingen sicherer sein als früher: Dass ein Wirtschaftswachstum, das auf Ungleichheit beruht, auf tönernen Füßen steht, dass wir nur mit sozialem Zusammenhalt…zu einer echten und nachhaltigen Entwicklung gelangen können, die jede chilenische Familie erreicht…Die Destabilisierung der demokratischen Institutionen führt direkt zur Herrschaft des Missbrauchs, zum Gesetz des Dschungels und zu Leid und Hilflosigkeit der der Schwächeren…
  • Ich werde Präsident aller Chilenen sein.
  • Es liegen viele Herausforderungen vor un Eine zeitnahe Gesundheitsversorgung, die keinen Unterschied zwischen Arm und Reich macht…Anständige Renten für diejenigen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben…Wachstum und eine gerecht Verteilung des Wohlstands…Das Drama der Obdachlosigkeit und der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen müssen wir angehen. Stärkung des öffentlichen Bildungswesens, Gewährleistung der Arbeitnehmerrechte, um ein Land mit menschenwürdiger Arbeit und besseren Löhnen aufzubauen. Schaffung eines nationalen Pflegesystems…sowie Überwindung des patriarchalen Erbes unserer Gesellschaft.
  • …die Erhöhung der Sicherheit in den Stadtvierteln, die Beseitigung des Drogenhandels, die Einordnung der Kultur in den ihr gebührenden Platz, die Förderung der Wissenschaft, die Anerkennung ihres Rechts, die die Welt aus anderen sprachlichen und kulturellen Perspektiven sehen und die besondere Aufmerksamkeit für den Umweltschutz werden zu unseren Aufgaben gehören…
  • In dieser Nacht des Triumphs wiederhole ich die Verpflichtung, die wir während des gesamten Wahlkampfs eingegangen sind: Wir werdendie sozialen Rechte ausbauen und wir werden dies mit finanzieller Verantwortung tun, wir werden es tun, während wir uns um unsere Makroökonomie kümmern. Wir werden es gut machen und das wird uns ermöglichen, die Renten und die Gesundheit zu verbessern, ohne in der Zukunft einen Rückschritt machen zu müssen.
  • Ich nehme dieses Mandat mit Demut entgegen.

Borics Linksregierung wird mit zahlreichen Widerständen innerhalb und außerhalb Chiles zu kämpfen haben. Es wird sich zeigen, wie die chilenische Klasse der wirtschaftlich Mächtigen, der Konservativen und Reaktionären die Einladung des neuen Präsidenten zur Zusammenarbeit zum Wohle des gesamten chilenischen Volkes annehmen wird. Die USA werden, dies zeigt die Geschichte, einer Linksregierung in „ihrem Amerika“ nicht die Hand reichen.

Als ÖKG wünschen wir Boric Erfolg und dem chilenischen Volk eine bessere Zukunft! Möge das neue, linke Chile die Völker Lateinamerikas ermuntern, den Kampf um Gerechtigkeit, sozialen Fortschritt, Freiheit und Menschenwürde erfolgreich zu führen.

Titelbild: Paulo Slachevsky/Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

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